Darum bete jeder Getreue zu dir in der Zeit der Not; wenn gewaltige Wasser strömen, ihn werden sie nicht erreichen. (Psalm 32,6) – Als Notzeiten kann man sich fast unendlich viele Bedrängnisse denken. Die Not kann von aussen wuchten als Naturkatastrophe, Krieg oder Unterdrückung bis zum Sadismus. Sie kann im Kleinformat eine Lebensgemeinschaft verwüsten, wenn Zerwürfnisse, Scheidung und Brüche geschehen. Und ein Mensch kann sogar allein in Not geraten, zuweilen ohne dass es jemand merkt: Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Depression. Nöte haben die Menschen stets wie Schatten begleitet, und vermutlich sind wir sogar mit einer empfindlichen Antenne dafür ausgestattet. Das technische Zeitalter hat Milliarden von Menschen von den Existenznöten entlastet. Dennoch scheinen die Sorgen um die Zukunft mächtig zu sein.
Wahr ist, dass Nöte weiterhin in der Luft liegen und Sorgen bereiten. Drücken sie auf die Seele, empfiehlt der Psalm das Gebet. Veraltet und naiv? Zumindest ist es nicht die gewohnte moderne Massnahme. Da wären Nöte zu beseitigen, nicht vor Gott zu bringen. Freilich zeigt sich gerade an den Beseitigungsbemühungen eine Schwierigkeit: Sie erzeugen neue Nöte. Das Gebet katapultiert mich in eine Gottesbeziehung. Die Psalmen reden weder vom isolierten Menschen noch vom isolierten Gott, sondern vom Verkehr und der Beziehung zwischen ihnen. Dass es sinnvoll ist, Nöte zu lindern, steht ausser Zweifel, doch spielt der Aktivismus dem Menschen oft blöde Streiche. Dann nämlich, wenn er sich mit Scheuklappen in die Behebung von Nöten und Scheinnöten stürzt und übersieht, dass er dabei mehr verliert als gewinnt. Das Gebet öffnet den Horizont und das Augenmerk für die wahren Umstände: Das Leben auf dieser Erde stellt kein Schlaraffenland dar, ist aber mitsamt den Nöten reich gesegnet.
Weltwoche 21/2023