Wer ist mein Nächster?

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Leviticus 19,18) – Das Gebot der Nächstenliebe steht mitten in der jüdischen Thora. Es wird von Jesus zitiert und im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner anschaulich gemacht (Lukas 10). Es gehört zu den beliebtesten Bibelstellen, besonders unter den Fürsprechern des Sozialstaats und der weltweiten Umverteilung. Es ist jedoch nicht wichtiger als die Botschaft von der Gnade Gottes und von der Auferstehung der Toten. Daher stellt sich die Frage, wer der Nächste ist. Das Gleichnis war ja die Antwort Jesu auf genau diese Frage.
Das hebräische Wort Réaʽ heisst Gefährte, Freund oder Nächster. Das zugehörige Verb bedeutet, sich mit jemandem einlassen. Zuweilen ist mit Réaʽ der Volksgenosse gemeint, doch wäre es zu eng, ihn als Angehörigen einer geschlossenen Gruppe zu beschreiben. Es kann sich einfach um einen Mitmenschen handeln, dem man zufällig begegnet. Im Gleichnis lässt sich der Samaritaner auf den Notleidenden ein, weil dieser am Wegrand liegt, wo er vorbeikommt. Das ist der entscheidende Punkt: Die Liebe ereignet sich in der Begegnung von Mensch zu Mensch. Wenn nun Regierungen die Einwanderung von Leuten aus aller Welt wahllos zulassen, so können sie sich nicht auf das Liebesgebot berufen. Falls es dafür gute Gründe gäbe, wären diese glasklar zu erläutern und demokratisch zu legitimieren. Eine Regierung hat die Aufgabe, die Staatsbürger und die im Lande Ansässigen zu schützen und ihre Interessen zu wahren. Der Gratiszugang zu Infrastrukturen, welche die Steuerzahler über Jahre aufgebaut haben, gehört nicht dazu. Das Motiv der Regierungen ist ihr moralischer Narzissmus. Er verleitet sie zum Wegschauen bei unechten Flüchtlingen. Aber geschleifte Grenzen erzeugen keine Liebe. Sie fördern Fremdenfeindlichkeit und Bürgerkriege.
Weltwoche 11/2023

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