Halte fern von mir den Weg der Lüge, und begnade mich nach deiner Weisung. (Psalm 119,29) – Vor exakt 50 Jahren publizierte der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn einen Aufruf mit dem Titel: Lebt nicht mit der Lüge. Darin hielt er mit Genugtuung fest, man lese und verbreite nun den Samisdat, wo man früher nicht zu flüstern wagte. Doch die meisten Leute hielten sich für machtlos gegen die Diktatur. Solschenizyn zeigte den Schlüssel zur Befreiung: Nicht mitlügen; die Lüge in keiner Weise unterstützen, weder schriftlich noch mündlich oder durch Versammlungsteilnahme. Die dadurch entstehenden Nachteile seien der Preis der Freiheit. Die UdSSR ist seit über 30 Jahren weg. Die Lüge auch? Mir scheint, sie lebe weiter. Im Westen? Die eigene Kultur für lügenfrei zu halten, wäre Kulturchauvinismus. Selbst der Psalmbeter ist sich seiner Ehrlichkeit nicht ganz sicher und bittet um sie. Und die Erfahrung zeigt: Je erfolgreicher einer lügt, je mehr Menschen ihm glauben, desto eher glaubt er seine eigenen Lügen.
Die Lüge bildet eine Symbiose mit der Macht, und die allerdicksten Lügen braucht es zur Sicherung absoluter Macht in der Tyrannei. Aber auch umgekehrt: Ein freiheitliches System, wo man sich Lügen allmählich angewöhnt und sie duldet, verwandelt sich in eine Tyrannei. Diese Gefahr besteht jederzeit, deshalb haben freiheitliche Gesellschaften in der Geschichte Seltenheitswert. Der Lügenbegriff taucht inzwischen in der öffentlichen Debatte häufiger auf. Gibt es Coronalügen, Impflügen, Klimalügen, Migrationslügen, Rentenlügen, eine Lügenpresse? Vielleicht nicht. Aber die offene Rede ist nötig. Denn wie die Diktatur durch kleine Widerstände geschwächt wird, so wird sie durch kleine Feigheiten gezüchtet. Freiheit und Menschenwürde erfordern Zivilcourage – und auch das obige Stossgebet.
Weltwoche 6/2024