Praxis und Theorie in anderer Reihenfolge

Vater, ich will, dass dort, wo ich bin, auch all jene sind, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt. (Johannes 17,24) – Dieser Satz aus dem Gebet Jesu wird meist als endzeitlicher Zustand verstanden: Im Reich Gottes wird die Gemeinde Christi dereinst seine Herrlichkeit schauen. Eine deutliche Vorahnung ist aber schon jetzt möglich. Der griechischen Ausdruck für schauen ist wohlbekannt: Theorein, theoria. Die Theorie ist die Anschauung oder Betrachtung im Gegensatz zur Tat, welche Praxis heisst. Die Theorie war über Jahrhunderte nicht der Ausgangspunkt der Praxis, sondern deren Ziel. Es ging darum, durch Tätigkeiten den Lebensunterhalt so weit zu sichern, dass ein Freiraum entstand für die Betrachtung und das Denken. Ganz so, wie es die Schöpfungsgeschichte von Gott erzählt: Er sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. (Genesis 1,31) Ich schaue zuweilen an, was ich gemacht und erlebt habe. Manches ist nicht sehr gut, aber ich bin ja auch nicht Gott. Trotzdem ist die Anschauung ein Gewinn.
«Praxis und Theorie» werden heute stets in umgekehrter Reihenfolge genannt. Hannah Arendt war der Auffassung, sie seien in der Neuzeit umgestülpt worden. Der moderne Homo Faber betrachte die Welt als Rohmaterial für seinen Machertrieb. Mag es einst darum gegangen sein, die Arbeit mittels Technik zu erleichtern, so ist dieses Motiv inzwischen dem zügellosen Umkrempelungswahn gewichen. Laufend kommen «Erleichterungen» auf den Markt, die das Leben erschweren, dem Wohlbefinden und der Gesundheit schaden und dennoch – zuweilen mit Zwang – durchgesetzt werden. Ostern ist eine Gelegenheit zur Kontemplation: Die Überwindung des Todes und das eigene Leben betrachten – mehr nicht.
Weltwoche 13/2024

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert