Einsamkeit ist nicht Verlassenheit

Wenn du aber betest, geh in deine Kammer, schliess die Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten. (Matthäus 6,6) – Die Anweisung Jesu richtet sich vor allem gegen den Drang, seine Frömmigkeit in öffentlichen Gebetsübungen zur Schau zu stellen. Hinzu kommt, dass das einsame Gebet gegen Ablenkungen schützt und die Konzentration auf das Wesentliche erleichtert. Das gilt sowohl bei vorgegebenen als auch bei improvisierten Gebeten. Jesus selbst hat sich zum Gebet oft in die Einsamkeit zurückgezogen. Daraus ist nicht etwa eine Geringschätzung des Gebets in der Gemeinde abzuleiten. Schon im Alten Testament wird der Versammlungsort Bethaus genannt (Jesaja 56,7). Ein Bethaus war trotz allem zeremoniellen Prunk auch der Tempel zur Zeit Jesu. Ausserdem sagte Jesus Christus seine Gegenwart zu, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (Matthäus 18,20). Die Einsamkeit des Betenden ist also vorübergehend. Der Mensch benötigt auch Gemeinschaft. Und sehr wichtig ist: Einsamkeit ist nicht das gleiche wie Verlassenheit oder Isolation. Dem isolierten Menschen fehlen der Gedankenaustausch und die Zuwendung. Er wünscht sie sich immer dringender und wird anfällig auf Ersatzstücke. Diesen Wunsch machen sich totalitäre Herrscher zunutze. Sie tun alles, um natürliche Gemeinschaften zu zerschlagen und die Menschen zu vereinzeln, damit sie der staatlichen Pseudogemeinschaft auf den Leim gehen. Unter Umständen bewegen sie sich sogar in der Masse und sind dennoch isoliert. Sie verwechseln Gemeinschaft mit Gleichschaltung. Umgekehrt suchen Menschen die Einsamkeit auf, ohne isoliert zu sein. Den guten Weg zu finden, ist heute anspruchsvoll. Die biblischen Hinweise zur Gebetspraxis geben Orientierung – für Beter und für Denker.
Weltwoche 33/2024

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