Der Mörder muss getötet werden. (Numeri 34,16) – Dieser talibanartigen Strafandrohung wird in einer aufgeklärten Gesellschaft niemand zustimmen. Schon im Alten Testament werden dagegen Einwände laut, und Jesus fordert die Schriftgelehrten, die eine Ehebrecherin steinigen wollen, sarkastisch auf: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie! Lässt sich aus dem krassen Zitat trotzdem ein Sinn herausdestillieren? Mir scheint, dass das möglich ist. Auch das moderne Strafrecht droht bei Rechtsbrüchen Strafen an. Diese sollen nach bewährtem römischem Prinzip verhältnismässig sein. Das lässt sich verallgemeinern zur Formel: Wer Unrecht tut und Andern schadet, soll Unlust hinnehmen und ein Stück Lebensqualität einbüssen. Die Verallgemeinerung lässt sich noch weiter verbreitern zur Aussage: Für schädliche Handlungen, auch wenn sie keinen Straftatbestand darstellen, ist man verantwortlich.
Die Sinologin Claudia Wirz schildert in einem Essay über Verantwortung und Freiheit die Entschuldigungspressekonferenzen in Japan. Eine solche fand zum Beispiel 2016 nach einem Abgas-Skandal statt, als die Autobosse vor grossem Publikum antreten mussten. Es geht jeweils darum, sich für seine Fehlleistung verantwortlich und damit schuldig zu bekennen. Das diszipliniert die Menschen und zeitigt gesellschaftliche Wirkungen: Wer unangenehme Folgen befürchten muss, überdenkt seine Handlungsweise gründlicher. Auch im Privatbereich. Wer sein Pensionskassengeld verjubelt, darf nicht einfach zum Sozialhilfebezüger werden. Das würde viele Menschen zum Leichtsinn verführen. Die Vergebung Gottes bleibt zugesagt. Aber das frivole Abschütteln von Verantwortung durch Amtsträger, Privatpersonen, Manager oder Prominente bekommt dem Volk schlecht. Freiheit braucht Verantwortung. Und Verantwortung braucht Haftung.
Weltwoche 47/2024