Wo bist du?

Da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor dem HERRN, Gott, unter den Bäumen des Gartens. Aber der HERR, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? (Genesis 3,8b-9) Die erste Frage Gottes an den Menschen zielt auf seinen Aufenthaltsort. Der Mensch – hebräisch Adam – hatte sich mit seiner Frau versteckt, nachdem sie eine Weisung Gottes missachtet hatten. Der Ort von Adams Befinden war merkwürdig, und seine Befindlichkeit war angespannt. Gott war ihm fremd geworden, deshalb sein Verschwinden ins Versteck. Und auch seine Frau war ihm fremd geworden, deshalb das plötzliche Bedecken der Genitalien. Adam und Eva hatten sich von Gott und voneinander entfremdet. Und es kam noch schlimmer: Sie wurden aus dem Garten Eden ausgewiesen wie Fremde.
Die Erzählung redet vom Menschen schlechthin. Der Mensch sehnt sich nach einem Ort des Friedens und der Harmonie. Doch wir erleben Spannungen und Disharmonien. Es gibt Menschen, die dazu triftige Gründe haben, weil sie unterdrückt, im Krieg oder sonst in einer Misere leben. Aber die grosse Zahl, die äusserlich restlos zufrieden sein könnte, kennt die Entfremdung dennoch: Entfremdung von Freunden, von der Heimat, von den eigenen Angehörigen, von den Jugenderinnerungen, sogar von sich selbst beziehungsweise von dem, was man zu sein glaubte. Das stört – und ist doch keine Störung, die sich griffig therapieren liesse. Es ist vielmehr eine Grundbefindlichkeit, der wir Menschen ausgesetzt sind. Unter denen, die davon am heftigsten betroffen sind, findet man nicht wenige, die in der Kultur oder sonstwo Aussergewöhnliches geleistet haben.
Gesellschaftliche Missstände und psychische Krankheiten gibt es. Aber die Entfremdung ist nicht mit Umwälzungen oder mit Psychotherapien zu beseitigen. Sie deckt vielmehr eine grundsätzliche Kluft zwischen dem ersehnten Sein im Paradies und dem realen Dasein auf. Diese Kluft sein lassen, ist ein kostbares Stück Lebenskunst. Und immerhin bewahren die Kerubim den Weg ins Paradies. (Vers 24)
Weltwoche 19/2019

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